Tafelklassler-Eltern
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Beim ersten Schulbeginn haben Taferlklassler und ihre Eltern meist gemischte Gefühle. Ein gutes Zeichen.
Dorothea Steinlechner-Oberläuter
(Welt der Frau, 2003/9)
Erster Schultag nach den Ferien! Auf dem Schulhof wimmelt es nur so von Kindern, Lehrern und Eltern, es wird geplaudert, begrüßt, gelacht und wild durcheinander gelaufen. In diesem Treiben sind die Erstklässler leicht zu erkennen: Ihr Erkennungszeichen ist die Schultüte, die – seit dieser aus Deutschland kommende Brauch vor etlichen Jahren auch bei uns Fuß gefasst hat – zu jedem allerersten Schultag dazugehört. Die meisten tragen sie stolz vor sich her, manche Kinder wirken allerdings, als würden sie sich eher an der großen Tüte festhalten wollen.
Manchmal scheint mir, dass auch die Eltern der Tafelklassler erkennbar sind und sich von den anderen Eltern unterscheiden. Ihr Erkennungszeichen ist ein ganz besonderer Blick, mit dem sie das Geschehen und besonders ihre Sprösslinge beobachten, und der sowohl Wehmut als auch Vorfreude ausdrückt, sowie eine gewisse Verwunderung über das Verfliegen der Zeit, das aus den eigenen Babys und Kleinkindern so ganz nebenbei Schulkinder gemacht hat.
Freilich sind da auch die ganz Forschen, die beteuern, wirklich froh darüber zu sein, dass diese langweilige Kindergartenzeit vorbei sei und endlich das echte Lernen beginne; oder die Zaghaften, die Schule in erster Linie als Stress und Zwang wahrnehmen und meinen, das eigene Kind vor den neuen Anforderungen in erster Linie beschützen zu müssen.
Wenn auf einem Lebensweg Schwellen zu überschreiten sind, nehmen die meisten Menschen jedoch „gemischte Gefühle“ bei sich wahr: Bedauern und Traurigkeit über jene Phase, die zu Ende geht, sowie Neugier und Vorfreude für das Kommende; Angst und Sorge, dem Neuen nicht gewachsen zu sein, sowie Hoffnung und Zuversicht, die neue Herausforderungen bewältigen zu können.
„Man wird richtig wunderlich“, sagte einmal ein sonst sehr rational ausgerichteter Vater anlässlich des Schulbeginns seiner Tochter zu mir. Viele wundern sich über die Gefühlsvielfalt, die mehr oder weniger überraschend in ihnen aufsteigt. Dieses feine Wahrnehmen des gleichzeitigen Vorhandenseins von zwei ganz unterschiedlichen Gefühlsqualitäten befähigt Eltern jedoch besonders gut, auf die emotionalen Bedürfnisse der Schulanfänger einzugehen. Denn dem Kind geht es ähnlich: Es ist sorgenvoll und traurig, und gleichzeitig freudig und zuversichtlich.
Wenn Eltern Kinder beim Einstieg in die Schule unterstützen wollen, dann gelingt dies am besten mit einer Grundhaltung, die ausdrückt:
„Ich bin mit dir neugierig auf das, was kommt – aber ich verstehe auch, wenn du zuweilen ängstlich und verzagt bist. Ich traue dir die Bewältigung der neuen Anforderungen zu – aber ich stehe auch zu dir, wenn du zweifelst. Es ist in Ordnung, all diese Gefühle zu haben.“
Schon sehr bald sind dann Eltern bei der Hausaufgabenunterstützung und beim Versuch, Regelmäßigkeit und Ordnung in das häusliche Lernen zu bringen, konkret gefordert. Wenn es ums Lernen geht, beherrschen oft Ungeduld, Leistungsorientierung, Ärger und Unzufriedenheit die Eltern-Kind-Beziehung. An die „wunderlichen Gefühle“ denkt niemand mehr.
Dennoch sind Erstklassler noch lange hin- und hergerissen zwischen Leistungswille einerseits und Selbstzweifeln andererseits, und es ist gerade diese Ambivalenz, die sich hinter einer ersten Lernunlust oder -abwehr verbergen kann. Wenn es dann den Eltern gelingt, ihre eigenen „wunderlichen Gefühle“ des ersten Schultags von Zeit zu Zeit zu erinnern und sich darüber auch den Zugang zur Gefühlswelt des Kindes zu erschließen, so ist die gefühlsmäßige Basis gelegt, auf der erst das konkrete Üben, Lernen, Unterstützen gelingen kann.
