Das Tigermädchen
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Heinz Janisch / Martine Schramm
EDITION TANDEM, Salzburg | Wien, 2010
ISBN 978-3-902606-52-5
Dorothea Steinlechner-Oberläuter
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Nina ist laut, spontan und impulsiv. Sie sucht häufig ungestümen Körperkontakt und manchmal spuckt sie auch. Nina ist wild, sie ist das „Tigermädchen“, und wenn sie im gleichnamigen Kinderbuch auf fröhlichen Bildern durch ihr Zimmer tobt, hat die Illustratorin jedes Mal für ein energisches Rot oder ein kraftvolles Pink gesorgt.
Nina ist aber anders als die anderen Kinder. Was ist bloß los mit Nina?
Theo, der Nachbarjunge, fragt sich das auch. Seit Nina in der Nachbarschaft wohnt, hat er einen unruhigen Schlaf. Er träumt von Elefanten, die durch sein Zimmer trampeln, von spuckenden Lamas, von einem Gorilla und einem Tiger, der sich in seinen Haaren festkrallt. Schwarz ist die Grundfarbe von Theos Träumen: Theo hat Angst. Das neue Mädchen ist ihm unheimlich. Was soll er tun?
Zum Glück hat Theo einen Vater, der ihn mit seinen Fragen nicht alleine lässt, der zuhört, versteht, erklärt und vermittelt. Er erklärt Theo, dass Nina „anders geboren“ wurde. Sie kann nicht sprechen, und sie kann sich nur ungeschickt bewegen, aber trotzdem möchte sie spielen, sich mitteilen und sucht auf ihre Art Kontakt.
Die Illustratorin Martine Schramm entwirft auf phantasievollen, bunten Bildcollagen die Vision eines freundschaftlichen Miteinanders zweier Kinder, die sich nach anfänglichem Befremden durch die Hilfe eines einfühlsamen Erwachsenen im gemeinsamen Spiel begegnen können. Heinz Janisch hat in seinen Texten einen einfachen Ton gefunden, der die ausdrucksstarken, dynamischen Bildcollagen beruhigt und trägt. „Das Tigermädchen“ist ein fröhliches Buch in schöner Ausführung, das in die Hand zu nehmen und anzuschauen immer wieder Freude bereitet.
Interessierte Leser und Leserinnen erfahren im kurzen Anhang, dass Nina, deren Geschichte hier erzählt wird, das seltene „Angelman-Syndrom“ hat. Das Bilderbuch selbst kommt ohne das Etikett „behindert“ aus, sondern zeigt die Realität von zwei unterschiedlichen Kindern auf, zwischen denen zunächst Unverständnis besteht: die Irritation des ängstlichen Theo; die Kontaktsuche der ungestümen Nina – wie soll das gut gehen?
Abgesehen von der ästhetischen Qualität liegt eine Stärke dieses Mut machenden Bilderbuches darin, dass Leitgedanken der Integrations- und Inklusionsdebatte mit Leichtigkeit und ohne moralischen Zeigefinger in Szene gesetzt werden. Der Fokus ist einerseits auf das Befremden und die Verunsicherung durch das oft unerwartete Verhalten eines behinderten Mädchens gelegt, andererseits auf die Vision eines Brückenschlages und eines letztendlich geglückten Miteinanders.
Der vermutlich nicht immer einfache und konflikthafte Prozess dieser Annäherung ist in diesem Bilderbuch jedoch nicht ausgeführt. Das Buch endet vielmehr mit einem Aufbruch: Theo fühlt sich nach dem Gespräch mit seinem Vater mutig und stark genug, Nina einen Besuch abzustatten.
Gerne hätte man noch erfahren, wie es den beiden Kindern denn nun wirklich miteinander gegangen ist und man hätte sich auch die eine oder andere Bildtafel dazu gewünscht – aber vielleicht gibt es ja eine Fortsetzung, in der erzählt wird, wie es gelingen konnte, dass Theo und das Tigermädchen so gute Spielkameraden geworden sind.
