„Wünsch dir Glück!“
Psychologische Überlegungen zu Mutterliebe und Kinderglück anlässlich des Muttertages.
Dorothea Steinlechner-Oberläuter (Salzburger Nachrichten, 28.6.2001)
„Liebe und Aufmerksamkeit sind die beiden Hauptmerkmale der Mütterlichkeit, doch reichen sie allein nicht aus: Wenn sie dem Kind dienlich sein sollen, müssen andere Faktoren dazu treten, nämlich die Liebe der Mutter zum Mann, zum erwachsenen Gefährten und ihr Interesse an den kulturellen und sozialen Gegebenheit ihrer Zeit.“ (Francoise Dolto, 1988)
Hänschen-Klein,
ging allein
in die weite Welt hinein,
Stock und Hut
steht ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Wer kennt es nicht, das Kinderlied vom Hänschen-Klein, das sich in die aufregende Welt aufmacht und eine weinende Mutter zurücklässt? Weniger bekannt ist, dass es zwei Versionen des Liedes gibt. Wenn es in der bekannteren Version in den Schlussversen heißt: „Da besinnt sich das Kind, kehret heim geschwind.“, so handelt es sich dabei bereits um eine überarbeitete Fassung mit einer eindeutigen Botschaft: Es geht um die Verhinderung der Individuation und eigenständigen Entwicklung eines Buben durch die Erweckung von Schuldgefühlen. Weil die Mutter traurig ist, verzichtet der Bub auf seine möglichen Abenteuer in der Welt. Die Mutter können wir uns als eine Frau vorstellen, die ihr Lebensglück und ihren Selbstwert ausschließlich aus der Beziehung zu ihrem Kind bezieht und deshalb Schwierigkeiten mit dem Loslassen und der wachsenden Selbstbestimmung ihres Kindes hat.
Von einem derartigen Mutterbild distanzieren sich heutzutage viele Mütter. In dem Bestreben, den Kindern den Auszug aus dem Elternhaus nicht unnötig schwer zu machen, wird als Gegenreaktion häufig eine „coole“ Haltung zur Schau getragen, die dem immer schmerzlichen Trennungsvorgang auch nicht angemessen ist. Dass Tränen nicht immer emotionale Erpressung bedeuten müssen, sondern als Ausdruck von Liebe und Sorge, als „Begleitmusik des Loslassens“ auch eine wichtige Funktion für das losziehende Kind übernehmen können, zeigt uns die Originalfassung des alten Liedes auf:
wünsch dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück.
Neben den Tränen kann der kleine Hans auch Zustimmung in den Augen der Mutter entdecken. Sie weiß um die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit seines Entwicklungsweges, für den sie ihm Glück wünscht. Sie drückt Angst, Sorge und Trauer aus, so kann Hänschen unbelastet von Zukunftsängsten und Abschiedsschmerz „wohlgemuth“ den schwierigen Schritt in die Selbständigkeit wagen. Er nimmt auch Stock und Hut mit, Attribute des Vaters, so dass wir annehmen können, dass er sich in seiner männlichen Entwicklung gestützt und gut behütet fühlen kann. Wie auch in den Märchen kann „In-die-Welt-ziehen“ als Gleichnis für einen inneren Entwicklungsweg gesehen werden, der aus der Kindheit ins Erwachsenenleben führt. Schauen wir, wie es unserem Hans dabei ergeht:
Sieben Jahr,
trüb und klar,
Hänschen in der Fremde war,
da besinnt sich das Kind,
kehret heim geschwindt.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr,
nein, ein großer Hans ist er.
Stirn und Hand,
braun gebrannt.
wird er wohl erkannt?
Für Hänschen bricht eine turbulente Zeit an: Er versucht sich vielleicht in verschiedenen Berufen, er bereist Länder und Meere, er lernt Frauen kennen und geht sexuelle Beziehungen ein. Manchmal verfolgt er ein Ziel, manchmal lässt er sich treiben. Immer versucht er, das zu finden und auszudrücken, was sein Eigenes ist, was seine Individualität ausmacht. Dies gelingt ihm nur, wenn er sich eine Zeitlang nicht zu Hause meldet, wenn er sich unbeeinflusst fühlt von Kommentaren und Bewertungen seiner Familie und den Traditionen seiner Herkunft. Ohne Rückkoppelung an diese Herkunft bleibt sein Tun jedoch nur eine Flucht. Auch neuere psychologische Theorien zur Identitätsentwicklung sehen es als wesentliche Aufgabe einer sich entwickelnden Persönlichkeit an, die Pole Eigenständigkeit/Autonomie einerseits und Bindung/Beziehungsfähigkeit andererseits in eine harmonische Verbindung führen zu können. Genauso wie eine Beziehung, in der jede Differenz und jeder Hauch von Konflikthaftigkeit ausgeklammert wird, nur eine Pseudoharmonie vermittelt und in die Sackgasse der Erstarrung führt, genauso ist eine Selbständigkeit, die nur um den Preis der Vermeidung von Nähewünschen und Emotionalität zu haben ist, nichts als Pseudofreiheit und führt zu Isolation und Einsamkeit. Unser Hänschen-Klein scheint das zu ahnen, denn er sucht die Rückkoppelung nach Hause und sehnt sich nach Anerkennung seiner neuen Identität und will es wagen, seine erwachsenen Ansprüche an Freiheit und Selbstbestimmung mit den kindlichen Wünschen nach Umsorgtwerden und Nähe zu konfrontieren.
Eins zwei drei
gehn vorbei,
wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht:
„Welch Gesicht.“
Kennt den Bruder nicht.
Kommt daher die Mutter sein,
schaut ihm kaum ins Aug hinein,
spricht sie schon,
„Hans mein Sohn,
Grüß dich Gott, mein Sohn.“
Wir stellen uns vor: Nach sieben langen Jahren geht Hans durch die Straßen seiner Kindheit. Er begegnet Leuten, die ihn fragend ansehen und ihn nicht wiedererkennen, was bei ihm Bangigkeit und auch eine heimliche Freude auslöst. Nach der Schwester kommt die Mutter. Sie sieht ihn an, erkennt ihn sofort und ... An dieser Stelle ist es noch offen, welchen Ausgang die Geschichte nehmen wird. Denkbar wäre auch, dass die Mutter ihn mit Vorwürfen begrüßt: weil er so lange weg gewesen war, weil er vielleicht auffällig oder schlampig gekleidet ist etc. Auch ließe sich diese Pause zwischen Wiedererkennen und Begrüßen endlos hinausziehen und mit eisigen, vorwurfsvollen, vielsagenden Blicken füllen. Im Lied gibt es jedoch zunächst keine Fragen, kein Entsetzen, kein Erstaunen, nur das Erkennen und das sofortige Anerkennen: Hans, mein Sohn. In der dem Volkslied eigenen Schlichtheit beinhalten diese drei Worte den ganzen schwierigen Prozess, seine Kinder erwachsen werden zu lassen.
Begrüßungsworte wie „Hänschen, mein Sohn“, oder aber „Hans, du bist nicht mehr mein Sohn!“, wären ein Hinweis auf eine Mutter, die ihr Lebensglück auf die Anwesenheit und Unreife eines Sohnes aufbaut. Im Ausspruch „Hans, mein Sohn“ in der Wiedersehensszene hingegen liegt die gleiche Zustimmung und Anerkennung wie im „Wünsch dir Glück“ des Abschieds. Da diese Mutter ihrem Kind so viel Eigenständigkeit zugestehen kann, ist sie – so können wir vermuten – wahrscheinlich eine Frau, die während der Abwesenheit des Sohnes auch etwas anderes getan hat als warten und sich härmen. Sie hat eigene Ziele und Interessen verfolgt, eine Partnerschaft gepflegt und sexuelle Erfüllung gesucht.
Lange Zeit war sowohl in der Volksmeinung als auch in der Psychologie eine Mutter, die nicht alle ihre Kräfte und Ambitionen ausschließlich in den Dienst der Versorgung ihres Kindes stellt, eine Rabenmutter. Erst langsam hat sich ein neues Verständnis von positiver Mütterlichkeit durchsetzen können: Wenn eine Mutter auch eigene Wünsche ernst nimmt, die Welt außerhalb des Kinderzimmers nicht vernachlässigt und Beziehungen zu anderen erwachsenen Personen pflegt, so schadet das dem Kind nicht nur nicht – es nützt ihm sogar. Fühlt sich ein Kind innerhalb einer Familie liebevoll angenommen und in seinen kindlichen Bedürfnissen grundsätzlich respektiert, so ermöglicht erst eine Mutter, die sich abgrenzen kann, die Nein sagen kann, die nicht unermesslich verfügbar ist und die die Grenze zwischen den Generationen akzentuiert, eine Entwicklung, die das Kind langsam in Richtung Beziehungsfähigkeit, emotionaler Reife und Realitätstüchtigkeit führt.
Die tendenzielle Entkoppelung von Mutterschaft und Berufstätigkeit, wie sie im „Kindergeld für alle“ angelegt ist, kann – so wertvoll die finanzielle Unterstützung im Einzelfall auch sein mag – aus psychologischer Sicht als gesellschaftlicher Rückschritt gewertet werden. Nicht nur für die Frauen, sondern auch für ihre Kinder.
